Olympia 2024: „Timo Boll ist ein Jahrhundertspieler, ein Jahrhunderttalent“ - WELT (2024)

Der griechische Fotograf an der Regattastrecke von Paris wartet bei diesen Olympischen Spielen eigentlich nur auf eines. „Es gibt dieses eine Event, das jeder Deutsche schauen muss“, sagt er, und seine Augen leuchten. „Wenn Timo Boll antritt. Legende! Sein letzter Tanz. Das muss jeder sehen.“

Wenn die deutsche Mannschaft nun am Montagabend im Achtelfinale auf Kanada trifft, hat der 43 Jahre alte Boll seinen ersten Auftritt bei diesen Olympischen Spielen. Der frühere Weltranglistenerste kämpft mit den Kollegen um die fünfte Team-Medaille bei Olympia nacheinander. In Peking 2008 und Tokio 2021 gab es jeweils Silber, in London 2012 und Rio de Janeiro 2016 jeweils Bronze. Und nach Paris, das hat Boll bereits gesagt, ist zumindest international Schluss. In der Bundesliga wird er noch spielen.

Einer, der ihn und das deutsche Tischtennis bestens kennt, ist Steffen Fetzner. 1989 gewann der heute 55-Jährige bei der Tischtennis-WM in Dortmund zusammen mit Jörg Roßkopf den Titel und sorgte hierzulande mit für einen Boom. Mit Boll hat er selbst noch gespielt, die Partien in Paris verfolgt er als Eurosport-Kommentator.

WELT: Herr Fetzner, Sie haben noch gemeinsam mit Timo Boll gespielt. Er wird nach seinen siebten Spielen seine internationale Karriere beenden. Welche Relevanz hat er fürs deutsche Tischtennis?

Fetzner: Er war eigentlich schon weg für Olympia, zumindest weit entfernt. Und dann gewinnt er plötzlich ein Turnier in Katar, schlägt drei Spieler aus den Top Ten, und plötzlich ist er jetzt doch dabei in der Mannschaft. Mit Timo muss man immer rechnen. Ich denke, man hat bei der Nominierung auch seine Erfahrung berücksichtigt. Die Gegner haben einfach Riesenrespekt vor Timo. Wenn er an der Platte steht und es ist das entscheidende Spiel, dann haben die Gegner noch mal ein Stück mehr Respekt als vor anderen. Vielleicht haben sie auch etwas Angst vor Timo.

WELT: Wie schätzen Sie denn die Chancen der deutschen Männer auf eine Wiederholung des Tokio-Ergebnisses in der Mannschaft ein?

Fetzner: Erneut Silber ist möglich, wobei die Konkurrenz jetzt deutlich stärker ist. Es kann natürlich auf ein Finale China gegen Deutschland hinauslaufen, aber inzwischen sind auch andere Nationen sehr stark: die Franzosen, Japaner, Taiwan, Schweden, Korea, auch Portugal ist nicht zu unterschätzen. Es wird ein harter Kampf, überhaupt ins Halbfinale einzuziehen. Die Konkurrenz hat aufgeholt.

WELT: Sie sagen, Boll sei ein Jahrhundertspieler. Was macht ihn denn als Persönlichkeit aus?

Fetzner: Er ist nicht nur ein Riesen-Spieler, sondern als Sportler, als Mensch einfach auch vorbildlich. Er hat immer den Boden unter den Füßen behalten, war für meine Begriffe vielleicht manchmal auch zu ruhig, aber so ist Timo einfach. Er ist keiner, der sich in den Vordergrund stellt, sondern lässt seine Leistungen sprechen. Timo ist auch in seinen größten Erfolgen immer sehr bescheiden geblieben. Und das zeichnet ihn als Menschen aus. Es war auch immer seine Stärke, dass er sich auf die Highlights fokussiert hat. Ich denke, er nimmt für das Team eine sehr wichtige Position ein.

WELT: Und spielerisch? Timo Boll ist keine 25, 30 mehr. Was hat ihn damals zu seiner besten Zeit spielerisch ausgezeichnet und was zeichnet ihn jetzt immer noch aus?

Fetzner: Er hat eine fantastische Spielübersicht. Das Spiel an sich hat sich ja verändert, aber Timo hat sich angepasst. Die Materialien haben sich verändert – er hat sich auch daran gewöhnt. Es ist eine seiner Stärken, dass er immer schnell erkannt hat, was er wann ändern muss. Ob es das Material oder sein Spielstil war.

WELT: Können Sie das etwas erklären? Was macht er heute anders?

Fetzner: Timo ist nicht mehr 20, er kann nicht ständig die Rückhand umlaufen und Vorhand spielen. Wenn es lange Ballwechsel sind und er weit vom Tisch entfernt ist, hat er ein Problem. Die Asiaten, auch die jungen Franzosen haben eine unglaubliche Härte in ihren Schlägen und ein unglaubliches Tempo. Aber Timo hat sich relativ schnell angepasst, hat überlegt, was er machen kann. Er trifft die Bälle jetzt früher und versucht, die Distanz zum Tisch zu verringern, um auch die Wege zu verkürzen. In den letzten Monaten setzt er das konsequent um.

WELT: Haben Sie ein Beispiel?

Fetzner: Ich habe ihn beim Pokal gesehen, der Gegner hatte ein 2:0 Satzführung – und plötzlich stellt Timo sein Spiel um. Er hatte eigentlich keine Chance mehr, hat dann aber doch im fünften Satz mehrere Matchbälle – am Ende gewinnt er leider doch nicht. Timo kann ein Spiel unheimlich gut lesen. Und er kann sich in ein Spiel, in dem er eigentlich keine Chance mehr hat, so hineinarbeiten, dass er am Ende als Sieger vom Tisch geht – und keiner weiß warum. Denn die spektakulären Schläge hat eigentlich der Gegner gemacht.

WELT: Welche Rolle spielt Alter im Spitzenbereich beim Tischtennis? In Paris stand eine Spielerin Ende 50 und eine andere mit 61 an der Platte.

Fetzner: Es kommt immer auf den Spielstil an. Und die Luxemburgerin hat einen ganz unorthodoxen Stil, das heißt, sie bewegt sich nicht so viel, spielt sehr passiv und hat auch Material – Noppen-Beläge –, das gerade für junge Spielerinnen sehr unangenehm ist. Die kommen mit so etwas manchmal überhaupt nicht klar. Es gab ja zum Beispiel auch in Schweden mit JO Waldner und Jörgen Persson Ausnahmespieler, die mit über 40 noch Weltklasse waren. Man muss aber auch sagen, dass die Geschwindigkeiten heutzutage am Tisch unvorstellbar sind. Irgendwann ist vom Alter die Grenze erreicht, weil man nicht mehr so dynamisch ist, die Reaktion lässt nach. Aber man kann vieles, wie man bei Timo sieht, über eine Routine kompensieren, über die Spieltaktik und Spielübersicht.

WELT: Nun sind es seit Langem mal wieder Olympische Spiele in derselben Zeitzone. Dazu wieder mit Zuschauern? Was erhoffen Sie sich für den Sport allgemein, aber speziell für Tischtennis?

Fetzner: Es ist natürlich auch erfolgsabhängig, aber bei Olympia rücken die Randsportarten wie wir in den Fokus. Und das ist eine riesige Plattform, um eine Sportart zu präsentieren. Entscheidend ist aber nicht, eine Euphorie zu entfachen, sondern das Ganze dann auch umzusetzen und weiterzudrehen. Das heißt, man muss, wenn Tischtennis erfolgreich sein sollte und junge Menschen plötzlich Tischtennis spielen möchten, ihnen auch die Plattform bieten. Die Vereine müssten bereit sein. Im Augenblick haben wir ein Nachwuchsproblem. Wir hatten schon mehrere Highlights im Tischtennis, die auch medial gut begleitet wurden, aber es hat irgendwie daran gemangelt, die Leute abzuholen.

WELT: Als Outdoor-Sportart scheint es seit der Pandemie sehr beliebt, oder?

Fetzner: In der Corona-Zeit hat sich Tischtennis tatsächlich mehr nach außen verlagert hat. Es gibt inzwischen eine riesige Bewegung, sodass viele auch in den Parks plötzlich Tischtennis spielen. Teils auch mit Flutlicht. Da hat sich eine richtige Szene entwickelt. Aber das Ziel muss es für uns sein, diese Menschen in die Vereine zu bringen. Und das haben wir leider bisher noch nicht geschafft.