Endlich Sommer, endlich Ferien. Capri, Amalfi, Aperol Spritz. Es könnte so schön sein in Italien. Oder etwa nicht?
»Influencer zeigen Dir die wunderbare Küste und die hübschen kleinen Städte«, ruft die TikTokerin Lexi Jordan aufgeregt in ihrem Video über die Amalfi-Küste bei Neapel. »Jeder von ihnen verdient eine Gefängnisstrafe!« So viele Treppen. 160 Stufen habe sie mit ihrem Gepäck den Berg hinaufsteigen müssen. »Hier gibt es keine Straßen! Es gibt keine Autos!«, fügt sie perplex hinzu.
Es muss ein Kulturschock sein. Da sind die romantischen Sonnenuntergänge, die einsamen Traumstrände der Influencer. Da ist eine Serie wie »The White Lotus 2«, die ein Bilderbuch-Sizilien inszeniert, mit glamourösen Gästen in einem Luxushotel in Taormina. Da sind Filme wie »La Grande Bellezza« als Hymne auf die Schönheit Roms. Oder die Erinnerungen an Goethe und das »Land, wo die Zitronen blühn«.
Und da ist die Realität. Unter Hashtags wie »instagram versus reality« teilen Reisende eine andere Wirklichkeit. In ihren Videos geht es um fehlende Klimaanlagen, Abzocke, Müllberge und immer wieder um Menschenmassen.
»Taormina nervt, völlig überrannt von Touristen«
Kommentar auf TikTok über einen »White Lotus«-Schauplatz auf Sizilien
»Überall ist es sooooo überfüllt«, »Taormina nervt, völlig überrannt von Touristen«, »warum ich Rom wahrscheinlich nie wieder besuchen werde« – so lauten Kommentare. »Das Wasser stinkt«, bemerkt eine Gondelpassagierin in Venedig.
2024 erlebt Italien, eines der beliebtesten Urlaubsziele weltweit, einen neuen Rekord. In diesem Sommer werden 216 Millionen Übernachtungen erwartet. Die Zahl der Gäste aus dem Ausland ist gegenüber dem Vorjahr noch einmal um 14 Prozent gestiegen. Italienische Medien sprechen bewundernd von einer »Explosion« der Branche.
Das Land wird vom Erfolg überrannt: Venedig experimentiert seit Kurzem mit Eintrittsgebühren für Tagestouristen. In Rom jagen Besucher auf Vespa-Touren dem Lebensgefühl von Fellinis »La dolce vita« hinterher. An der Costa Smeralda auf Sardinien werden Hotelzimmer für mehrere tausend Euro pro Nacht verkauft. Ein »beach bed« mit Sonnensegel kostet an toskanischen Stränden mitunter 500 Euro und mehr – pro Tag.
Eine Italiensehnsucht wie zu Zeiten der Grand Tour, als privilegierte Besucher mit Jacob Burckhards »Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens« in der Hand das Land bereisten und verzückte Berichte nach Hause schickten, befeuert die Geschäfte.
Allerdings: Auch die TikTok-Nörgler von heute stehen in einer großen Tradition. Schon Touristen früherer Jahrhunderte stöhnten über den Massenandrang, wenngleich in anderen Tönen. »Da strömen die Leute nach Italien, jeder Barbier und jeder Schlachter tut es«, schrieb Gerhart Hauptmann 1897.
»Hat mich kalt gelassen«
Theodor Fontane über italienische Kunst
Wenig begeistert zeigte sich auch Theodor Fontane, als er das Land 1874 und 1875 jeweils mehrere Wochen lang besuchte. »Das Schwärmen liegt ihm fern«, schreibt der Bremer Literaturwissenschaftler Dieter Richter in seinem sehr unterhaltsamen Buch »Fontane in Italien«.
»Hat mich kaltgelassen« oder »lässt mich ziemlich kalt«, kommentierte laut Richter der »märkische Skeptiker« seine Streifzüge durch Museen, zum Beispiel als er die Uffizien in Florenz besuchte und dort das Michelangelo-Bild der Heiligen Familie (»Tondo Doni«) betrachtete. Tintorettos Gemälde »Das Paradies« im Dogenpalast von Venedig hielt er für »flott zusammengeschmiert«.
»Da macht das Meer bei Brighton doch einen anderen Eindruck«
Emilie Fontane
Landschaft und Städtebau gefielen dem Autor von »Effi Briest« ebenso wenig. In Venedig fand Fontane die Gondelfahrt zum Lido »eigentlich langweilig«. »Da macht das Meer bei Brighton doch einen anderen Eindruck«, schrieb seine Frau Emilie.
Die Zugreise von Florenz nach Rom? »Die Fahrt von Bonn nach Mainz … ist schöner, erhebender«, notierte Fontane, der Ehrenmitglied im »Touristenclub Mark Brandenburg« war. »Das Herz geht einem mehr auf.« Über den im 16. Jahrhundert angelegten Park der Cascine in Florenz schrieb der Berliner: »Nur ist unser Thiergarten unendlich viel hübscher.«
Nicht einmal der Golf von Neapel mit dem Vesuv konnte ihm gefallen. Spree, Havel und Müggelsberge waren ihm lieber. »Ich komme preußischer zurück denn je«, bemerkte Fontane, wie Richter festhält, in einem Brief am Ende seiner Reise.
Manchmal ist es verblüffend, wie sich die Kümmernisse der Urlaubenden ähneln, selbst wenn ein oder zwei Jahrhunderte zwischen ihren Besuchen liegen. Zum Beispiel die Strapazen bei der Anreise: »Du musst bei über 30 Grad auf die Fähre warten«, schimpft TikTokerin Lexi Jordan über ihren Amalfi-Trip. Andere bemängeln »zwei Stunden Warteschlange für einen Bus« oder »80 Euro für eine Fünf-Minuten-Fahrt im Taxi«.
Transportsorgen hatte auch Sigmund Freud, eigentlich ein enthusiastischer Italienbesucher. Wäre da nur die Zugfahrt nicht gewesen!
Von einem »sehr mangelhaftem und nicht unbedenklichem Bahnverkehr« schrieb er in einem Brief. Vor allem die Fahrt durch »finstere Tunnel« ängstigte den Begründer der Psychoanalyse, wie Jörg-Dieter Kogel in seinem Buch »Im Land der Träume. Mit Sigmund Freund in Italien« erklärt. Auch das veränderte Raum- und Zeitgefühl im Vergleich zur beschaulichen Postkutschenfahrt muss Freud nervös gemacht haben, weshalb er, so Kogel, seine Reisephobie »einer eigenen Analyse unterzog«.
Nur beim Essen klaffen die Meinungen zwischen damals und heute auseinander. Statt von Pizza und Pasta zu schwärmen und die gesunde Mittelmeerdiät zu feiern, zogen Reisende früherer Epochen mit Abscheu über die italienische Küche her.
Vor allem das angeblich »übelriechende« und »stinkende« Olivenöl mit seinem »aufdringlich widrigem Geschmack« irritierte die Besucher.
»Über Jahrhunderte hinweg galt die italienische Küche den Besuchern aus dem Norden als ungenießbar und gesundheitschädlich«, schreibt Fontane-Experte Richter in seinem Buch »Con Gusto. Die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht«
Goethe ekelte sich vor »ungenießbarem« Safran-Huhn
Mal ekelten sich die deutschen Gäste vor einem vermeintlich »ungenießbaren« Safran-Huhn (Goethe), mal vor dem angeblich »bestialischen Makkaronenfraß« der Sizilianer (Johann Gottfried Seume). Auch von Pizza rieten damalige Urlauber ab. Die »großen flachen und runden Kuchen« lägen »schwer im Magen«. Über »Seekrebse« und »Meerspinnen«, heute eleganter als »frutti di mare« bekannt, urteilte ein Frankfurter Kaufmann: »Pfui, wer kann so etwas essen wollen!«
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Profis haben offenbar keinen Aufwand gescheut, um solchen Gefahren zu entgehen. Der Hamburger Maler Christian Wilhelm Allers ließ laut Richter eigens norddeutschen Räucheraal in seine Villa auf Capri bringen, wo er seinen Gästen auch »Bratwurstkartoffelfrühstück« servierte und eine »Heringssalatgesellschaft« gab.
In Florenz gab es ein »Moselstübchen« und in Rom eine »Deutsche Wurstfabrik«
Aber auch Italienfans ohne eigene Villa mussten nicht verzweifeln. In Florenz gab es ein »Moselstübchen«, in Neapel eine »Altdeutsche Weinstube« und in Rom neben einer »Deutschen Wurstfabrik« und dem Gasthof »Zum Bären« einen »Deutschen Künstler-Verein«, der seinen Gästen, wie der Dichter Hermann Allmers 1859 lobte, »Teller mit vaterländischem Sauerkraut nebst Bratwurst« servierte.
Ungenießbares Essen, »ungemüthliche« Landschaften (Fontane), zusammengeschmierte Kunst: Nicht alle ließen sich ihren Italienurlaub vermiesen. Das beste Beispiel für eine ungebrochene Italienliebe lieferte vielleicht Sigmund Freud, der seine Angst vor finsteren Tunneln überwand und von Wien aus etwa 20-mal Ferien im Nachbarland machte.
»Die meiste Zeit verbrachte er mit seinem Bruder im Meer«, schreibt Autor Kogel über eine Adria-Reise des Traumdeuters. Nicht einmal zum Essen sei er an den Strand zurückgekommen. Stattdessen »schwamm ein Kellner hinaus und balancierte dabei ein Tablett mit Erfrischungen, ja sogar Zigarren und Streichhölzern«.
Freud selbst bezeichnete seine Italienurlaube als »unerhörte Schwelgerei«: »Soviel an Farbenglanz, Wohlgerüchen, Aussichten – und Wohlbefinden habe ich noch nicht beisammen gehabt.«